Der Gedanke, dass wir andere lieben sollten – den Nächsten etwa, ist uns sicher sehr geläufig. Ebenso wie der Wunsch, von anderen geliebt und fair behandelt zu werden. Aber was bedeutet es, uns selbst zu lieben? Echte Liebe hat generell damit zu tun, dass eine Person in Güte wahrgenommen und behandelt wird. Dass nichts anderes dahinter steht, als wohlwollende und wahrhaftige Gründe. Von Selbstliebe sprechen wir, wenn wir eine entsprechende Haltung uns selbst gegenüber aufbauen.
Wenn wir selbst eine solche Beziehung zu uns herstellen, können wir fähig werden, auch anderen zu geben, was sie sich wünschen – andere zu lieben. Ich erinnere mich an einen Tag, der noch nicht lange zurückliegt, an dem ich selbst viel leisten musste, einiges an emotionaler Last zusammen kam und an dem ich mich selbst einfach viel zu hart herannahm. Ich gönnte mir kaum eine Pause und forderte viel von mir. Beim Abendspaziergang mit meiner Frau zuckte diese zusammen, als ein lautes Motorrad nahe neben uns vorbeifuhr. Sie sprach darüber, dass sie so eine unerwartete Lautstärke sehr stresse, aber ich konnte in der Situation kein Mitgefühl für die Geräuschwahrnehmung von Naty entgegenbringen. Sprach von Abhärtung und ähnlichem Blödsinn. Noch während ich sprach, merkte ich, wie verkrampft und falsch sich mein Inneres in diesem Moment anfühlte. Aber ich konnte es ad hoc nicht ändern. Ich war in dem gefangen, dass ich mir an diesem Tag selbst keine große Liebe zu mir selbst gegönnt hatte – etwa eine Verschnaufpause, Zeit für Selbstwahrnehmung und Selbstverständnis. Mein innerer Tank für Liebe nach außen war leer.
Eine Pause im gestressten Alltag kann ein Ansatz sein, um Selbstliebe relativ einfach zu praktizieren. Oder man gönnt sich was, bestellt sich einen kleinen Wunsch bei Amazon oder geht mit der liebsten Person irgendwo Essen. Was aber wird nötig, wenn wir in das Thema Selbstliebe noch tiefer und beständiger eintauchen wollen, so dass es zu einer Routine, zu einer Haltung wird? Ich denke, hier kommen einige Faktoren zusammen, die dabei helfen können:
- Man fühlt sich optimalerweise zuvor von anderen geliebt. Dann fühlt es sich einfacher an, sich selbst zu lieben. Denn man erlebt das Gefühl von Liebenswürdigkeit. Diese Liebenswürdigkeit vermittelt uns neben Menschen der beste Vater auf unangefochten beständiger Basis: Gott. In seinen Augen sind wir immer liebenswürdig. Er betrachtet jeden einzelnen Menschen als seine Kinder, die er sehr liebt, auf die er stolz ist (ohne dass sie auch nur einen Finger dafür krumm machen müssen) und für die er immer (!) das Beste will.
- Ruhe: in einer angenehmen Liegeposition im Bett, entspannt im Lieblingssessel oder auch wohltuend unter der Dusche können wir ein Durchatmen, Entspannung und Loslassen aller drängender Gefühle und Gedanken finden. Manchmal hilft auch ein Blick in den Sternenhimmel, der uns zeigt, dass es noch etwas Größeres gibt als alles, was uns gerade so nah ist, uns vielleicht manchmal auch ängstigt und Sorgen macht.
- Atmung: die Atmung kann uns helfen, uns auf uns selbst zu konzentrieren und das Tempo des Alltags spürbar zu verlangsamen. Mit langsamem, bewußtem Atmen bringen wir unseren Puls herunter, erleben, dass wir viel mehr wert sind, als nur billig, gehetzt und oberflächlich durchs Leben zu stressen. Und fangen an, uns wieder zu spüren.
- Gefühle und Gedanken wahrnehmen, aber an uns vorbeiziehen lassen. Gefühle sind Sinnanzeiger oder auch Motivatoren, die uns zu etwas veranlassen wollen. Gerade bei sensibleren Personen erscheinen sie oft dringlich und sehr nah. Nun ist aber Zeit, sie zu akzeptieren (manchmal unterdrücken wir sie, so dass wir kaum noch Bezug zu uns selbst haben). Wir betrachten sie mit Wohlwollen und Wärme, lehnen sie nicht ab. Lassen sie dann mit Leichtigkeit an uns vorbeiziehen. Wir sind einfach da. Wir nehmen unseren Kern, unser Sein, Körper, Geist und Seele wahr.
- Ehrlichkeit: bei aller Selbstwahrnehmung (Gefühle, Gedanken, Wünsche, Sorgen) dürfen wir ehrlich sein.
- Vertrauen: in dieser Situation kann Vertrauen entstehen, ein Verlangen nach Verbindung nach außen. Über uns hinaus. Der beste und vermögenste Vater, den es gibt, betrachtet uns genau in diesem Moment und nimmt uns wie immer mit einem Lächeln wahr, das seinem zutiefst gütigen Wesen entspringt. Vielleicht verspüren wir – nun etwas mehr „resetted“, nun Lust, uns auch mit anderen Menschen zu treffen und auszutauschen: über die Dinge, die uns wirklich wichtig sind und uns in dieser ruhigen Wahrnehmung von Selbstliebe begegnen.
Die ehrliche Tiefe in unserem Leben nimmt zunehmend zu. Wir hetzen nicht mehr wie im Hamsterrad umher, funktionieren nicht mehr wie eine öde Maschine. Wir sind Menschen aus Fleisch und Blut. Wir sind und haben nicht nur. Wir sind und denken nicht nur. Wir sind und funktionieren nicht nur. Die Antennen für Wesentliches sind wieder neu ausgerichtet. Und wir haben wieder neu Bezug zu uns und dadurch auch zu den anderen und zu Gott erhalten. Diese Routine ist sehr wertvoll, beständig aufrecht erhalten zu werden.
Wir finden die Aufforderung dazu im Alten, wie auch im Neuen Testament: „Du sollst deinen Nächsten lieben WIE DICH SELBST“ (3.Mose 19,18, Markus 12,29-31). Es ist eine sehr gute und stärkende Vorgabe für jeden von uns.
Mehr als alles andere behüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus. (Sprüche 4,23)