Written by 1001 Geschichten

1001-3 Die Schneckentreppe

3 Die Schneckentreppe.

Vor langer Zeit gab es einmal in einem weit entfernten Land in einem ganz besonderen Haus eine wunderschöne, sehr moderne Schneckentreppe. Sie formte sich nach unten, wie sich ein Schneckenhaus nach oben dreht, also genau umgekehrt. Ich ging diese Treppe hinunter, weil ich sehen wollte, wohin sie führte. Ihr Boden hatte zwei Farben: Cremeweiß und Himbeerrot. Blickte man hinab, so konnte man kaum ein Ende ausmachen. Dennoch ging ich sie Stufe für Stufe hinunter, um zu sehen, was sich dort am Ende befand. Als ich schließlich ganz unten ankam, erblickte ich ein freudig dreinblickendes, kleines Mädchen in einem weiß-pinken Kleidchen. Es strahlte eine tiefe Würde und ein Selbstbewusstsein aus, das alles, was ich bisher kannte, in den Schatten stellte. Es sprach mich nicht an, blieb einfach still sitzen und legte einen Finger auf ihren Mund, als es mich erblickte. Mit ihren großen Augen schien sie zu sagen: „Sei still. Genieße den Augenblick. Sei selbst ein Kind, wie ich es bin!“ In diesem Moment spürte ich einen warmen Fluss von Liebe und Energie durch mich hindurchgehen. Ich fühlte mich wieder wie ein Kind, erinnerte mich an Dinge, die ich längst vergessen hatte – Gefühle und tiefe, erfüllende Gedanken, die mich, als ich noch klein war, in eine andere Welt getragen hatten. Ich verspürte wieder diesen unbestimmbaren, unfassbaren Sinn, einen umfassenden Frieden und das erfüllende Gefühl von Einheit zwischen allen Zusammenhängen dieser Welt. Alles andere spielte im Moment keine Rolle mehr: Keine Sorgen. Keine offenen Fragen. Keine Getriebenheit. In diesem Zustand fiel ich in einen tiefen, friedlichen Schlaf. Ich nahm wahr, dass das kleine Mädchen zu einem großen, weißen Kranich geworden war, der würdevoll seine Flügel ausbreitete. Seine Worte zu mir lauteten: „Folge mir nach! Nun kannst auch du fliegen!“ Er flog über die Treppenstufen hinweg zielstrebig zum Himmel empor. Ich bemerkte, dass mir sehr leicht ums Herz wurde und flog einfach, ohne weiter über alles nachzudenken, hinterher. Seitdem hat mich dieses Gefühl von Leichtigkeit niemals mehr verlassen – auch nicht inmitten schwerer Kämpfe des Lebens. Ich flog stets zwischen den Fragen und Sorgen hindurch, ohne dass sie mich fassen oder nach unten ziehen konnten. Weil ich nun diesen ganz bestimmten Frieden tief im Innern kannte. Heute kann ich sagen: ich befand mich schon damals im Himmel.